Donnerstag, 19. Oktober 2023

Erfinden heißt erinnen

Ein Interview mit Autorin Anne Gesthuysen

Sie war von 2002 bis 2014 das Gesicht des ARD-Morgenmagazins. Ihr erstes Buch "Wir sind doch Schwestern" war 2012 ein echter Überraschungserfolg und führte zeitweilig die Bestsellerlisten an. Mit dem aktuellen Buch "Wir sind doch schließlich wer" ist Anne Gesthuysen nun auf Lesereise und im Rahmen des Göttinger Literaturherbstes am 2. November zu Gast im Kurhaus Bad Lauterberg.

Frau Gesthuysen, wie weit werden Sie in der Öffentlichkeit immer noch als die Moderatorin des Morgenmagazins wahrgenommen?

Nach 9 Jahren wird es langsam weniger. Aber es passiert immer noch, dass Menschen aus heiterem Himmel fragen: „Warum machen Sie eigentlich nicht mehr das Morgenmagazin?“

Die Antwort lautet nach wie vor: Ich habe das Morgenmagazin wirklich geliebt. Aber jede Nacht um 1 Uhr aufstehen, das habe ich irgendwann gehasst.

Wie macht sich dies während ihrer Lesungen bemerkbar?

Ehrlich gesagt freut es mich, dass wohl niemand mehr zu den Lesungen kommt, um die ehemalige Morgenmagazin-Moderatorin kennenzulernen. Die Menschen kommen tatsächlich wegen der Bücher, und das freut mich ungemein.

Anne Gesthuysen zeigt: Mit
Optimismus geht es besser.

Foto: Monika Seidelmann-
www.monika-seidelmann.de

Dennoch sind Sie weiterhin im Fernsehen aktiv. Sind Schreiben und Moderieren für Sie konkurrierende Tätigkeiten oder ergänzen sich diese beiden Tätigkeiten?

Schreiben ist ein Marathon. Das dauert und man muss dranbleiben, man hat schwere Momente, in denen man am liebsten aufhören möchten, aber dann geht es wieder weiter und irgendwann kommt das Runner´s High und man saust durchs Ziel. Das Ergebnis ist langlebig.

Moderieren ist dagegen die Kurzstrecke. In dem einen Moment musst man auf der Höhe sein und alles geben. Einen Moment des Durchhängens kann man sich nicht erlauben. Aber kaum ist die Sendung beendet, ist die Moderation auch schon vergessen.

Beides ist toll, manchmal ist beides schrecklich, ich mag beides wirklich gern.

Wann ist ihr Lampenfieber größer? Wenn Sie vor einer Kamera stehen oder wenn Sie live bei einer Lesung auftreten?

Auf jeden Fall bei einer Lesung. Wenn es den Menschen gefällt oder nicht gefällt, dann sieht man es in Gesichtern und Reaktionen. Die Kamera reagiert nicht.

Worin besteht für Sie der Zauber einer Lesung? Was reizt Sie, dem Publikum direkt ausgeliefert zu sein?

Ich schreibe die Bücher für das Publikum. Klar ist bei den ersten Lesungen die Angst groß, die Szenen, die ich vortrage, könnten nicht gefallen.

Aber wenn die Menschen mitgehen, mitlachen, mitleiden und ich merke, dass ich sie berühre, dann ist das ein geradezu erhebendes Gefühl.

Ihre ersten Romane waren von der eigenen Biografie geprägt. Inwieweit trifft dies für „Wir sind doch schließlich wer“ zu?

Auch dieser roman spielt am unteren Niederrhein, da wo ich aufgewachsen bin und wo ein Teil meiner Familie immer noch lebt. Viele der Geschichten, die Anna von Betteray als Kind erlebt, sind „meine“ Geschichten. Außerdem gibt es für die meisten Personen in den Büchern reale Vorbilder. Der frühere Verleger von Kiepenheuer und Witsch hat mal gesagt: Erfinden ist Erinnern.

Der Roman spielt in ihrem Heimatort. Ist dies nicht gefährlich, weil es immer jemanden gibt, der sich selbst erkennt, ertappt und auf den Schlips getreten fühlt?

Ich glaube viele Menschen können sich selbst erkennen oder gar ertappt fühlen. Ich beschreibe ja Menschentypen. Aber auch wenn sie Fehler und Charakterschwächen haben, ich habe ein Herz für die meisten Figuren, die ich in meinen Büchern beschreibe. Insofern darf sich jeder, der sich ertappt fühlt, gemocht fühlen.

Lebensbejahung ist der Tenor Ihrer Bücher. Inwieweit kommt man mit einer ordentlichen Portion Optimismus besser durch diese schweren Zeiten?

Als Journalistin schaue ich manchmal in die Welt und bin schockiert, wie sich gerade vieles zum Schlechten zu wenden scheint. Aber durch Pessimismus ist ja noch nie etwas besser geworden. Durch Optimismus schon. Wenn Menschen daran glauben, dass sie gemeinsam etwas Besseres schaffen, ist die Chance auf Gelingen ungleich größer, als wenn man gar nicht erst anfängt.

Wie lange müssen wir noch auf den nächsten Gesthuysen warten?

Wenn nichts dazwischenkommt, könnte im nächsten Herbst eine weitere Geschichte mit Anna, Freddy, Martinchen und Tante Ottilie erscheinen. Ich arbeite daran.

Vielen Dank für ihre Antworten.


"Wir sind doch schließlich wer" - eine Geschichte über einen kranke Pastor, ehrgeizige Frauen und allgemeinen Standesdünkel. Der Roman bei KiWi  


"Wir sind doch schließlich wer" - Anne Gesthuysen liest am 2. November im Kurhaus Bad Lauterberg daraus vor. Karten dafür gibt es beim Göttinger Literaturherbst